Als Vitus an diesem eisigen Morgen in die leeren Augen von Iolanda starrte, wusste er instinktiv: heute ist kein guter Tag zum Sterben. Zumindest nicht für Dich, meine Liebe!
Der Trupp war durch die Eskapaden der letzten Tage sehr geschwächt, aber es blieb keine Zeit zur Rast. Erstens würden die Männer somit keine Zeit haben, sich mit der Ausweglosigkeit ihrer Situation auseinander zu setzen. Zweitens, und das war der viel wichtigere Grund, ging es um das Leben seiner Schwester. Aber sie haben sich nun mal selbst in diese verzwickte Lage gebracht, sprach er zu dem bewegungsunfähigen Häufchen Elend vor sich, und wir werden uns hier auch wieder raus manövrieren. Seit mittlerweile zwei Wochen war Kommunikation mit seiner Schwester nur in einer Richtung möglich. Anfangs hatte ihn ihre Gleichgültigkeit zur Weißglut gebracht. Später, als er einsehen musste, dass sie ohne Hilfe durch einen echten Arzt nie wieder mit ihm reden könnte, hat er seine stundenlangen Monologe als Herausforderung betrachtet. Was hatte er auf sie eingeredet. Wem hatte er sie alles gezeigt, in ihrem desolaten Zustand. Und wieviele angebliche Wunderheiler, Schamanen, Medizinmänner hatten ihm nicht alle zugesichert, sie könnten seine Iolanda heilen. Bisher leider erfolglos. So schlimm es sich anhörte: der einzige Ausweg war die Zivilisation. Seit sie vor drei Monaten Fort „Newcastle“ verlassen hatten, waren sie immer Richtung Süden gegangen. Sie mussten also über kurz oder lang auf die Siedlung „Sydney“ stoßen. Wenn er seinem ersten Leutnant und Chef-Sextanten Marcello glauben durfte, hätten sie die Siedlung bereits vor einer Woche erreichen sollen. Doch statt freundlicher Einheimischer und Sandstrand, gab es hier nur Einöde und Berge. Berge und Canyons soweit das Auge reichte. Seiner Meinung nach waren sie vom Kurs abgekommen. Aber will man es sich in dieser Lage auch noch mit seinem ersten Leutnant verscherzen. Die Geduld der Männer war am Ende. Nur noch ein Funke und nicht das sprichwörtliche Fass läuft über (und sie könnten bei Leibe dringend volle Fässer zum Auffüllen der leeren Wasserflaschen benötigen), sondern die Hitze schlägt um in ein echtes Buschfeuer. Rebellion! Aufstand! Meuterei! Um die Lage ausgiebig zu sondieren, musste Marcello von der Truppe getrennt werden. Also schickte Vitus ihn mit der Vorhut schon früh am Morgen voraus, um den Weg zu sichern und nach Anzeichen für eine Zivilisation Ausschau zu halten. Lang vor dem Morgengrauen waren sie gestartet und als sie vor wenigen Minuten wieder zurückkamen, war die Aufregung immens. Das Geschrei der Männer war es auch, dass Vitus aus dem Schlaf riss und in die Augen seiner Schwester blicken ließ. Also, was immer auch der Grund für dieses Getümmel war, er würde es herausfinden, klären und dann gemäß dem ursprünglichen Plan weitermachen. Beruhigen, verstehen, unbeirrbar bleiben. Das waren die Weisheiten, die ihm seine Mutter Antonia damals mit auf den Weg gegeben hatte. Damals, als er fast noch ein Kind war und dennoch dieses Abenteuer antreten wollte. Nein, er wollte es nicht nur, er musste es einfach. Sollten die Leute doch ruhig reden. Er wusste, dass er das Richtige machte. Und selbst, wenn er nun ob der Aussichtslosigkeit manchmal ins Zweifeln kam, tief in ihm drinnen fühlte es sich richtig an. Richtig die Konventionen gebrochen zu haben. Richtig sich von „den Anderen“ nicht beinflussen zu lassen. Richtig die Reise anzutreten. Und richtig, jetzt keinen Rückzieher zu machen. Der Mopp hatte sich ums niedergebrannte Lagerfeuer versammelt und war heftig am Diskutieren. Es dauerte eine Weile bis Ruhe eingekehrt war und Vitus seinen ersten Leutnant in der Menge erblickte. Er stand, umringt von einer Traube Menschen, dicht am Feuer und hielt irgendetwas in den Armen? Ein Bündel. Vielleicht das lang ersehnte Anzeichen für menschliches Leben hier draußen. Dass Vitus mit seinen Vermutungen so richtig liegen sollte, hatte er in dem Moment nicht gedacht. Und jetzt, mit etwas Abstand, wäre es ihm lieber gewesen, er hätte mit seinen ersten Vermutungen falsch gelegen. Dann müsste er sich jetzt nicht darum kümmern, wie er ein weiteres Maul gestopft bekommt. Ein Maul noch dazu, das nicht einfach mit Dörrfleisch und dieser an Brotteig erinnernde Pampe zufrieden zu stellen war. Ein Babymaul um genau zu sein. In dem Bündel lag fein säuberlich verpackt ein Kleinkind. Ein Mädchen, namens Afra, was dem Tattoo am Arm zu entnehmen war. Wo um Himmels Willen hast du das denn gefunden, fragte Vitus den immer noch etwas verstörten Marcello. Seine Antwort kam wie ein Donnerschlag: sie wollten es der Säbelzahn-Python opfern.
Was zur Hölle ist eine Säbelzahn-Python? Und wer bitte sind „sie“? Dass in diesem abgelegenen Teil der Erde noch das ein oder andere unerforschte Tier kreucht und fleucht war zu erwarten. Aber eine Mischung aus prähistorischem Lebewesen und einer Schlange? Der Beschreibung nach sah es jedoch genauso aus. Eine Schlange so groß wie zehn aneinander gereihte Krokodile mit einem mächtigen Haupt und zwei rießigen Stoßzähnen. Und „sie“ sind ein Dorf Eingeborener mit sehr kannibalistischen Ambitionen. Beide waren nun auf dem Weg zu uns. Schöne Scheiße. Vielleicht ist heute doch ein guter Tag zu sterben?